Publikum ohne Gefühl und Verstand

Sandra Man

Also sprach Zarathustra ist Ein Buch für Alle und Keinen. Für Alle und Keinen ist die Anschrift, mit der Nietzsche seinen Zarathustra, den »dionysischen Unhold« (GdT, 22), wie er ihn im späteren Vorwort zur Geburt der Tragödie nennt, versieht. Für Alle und Keinen ist Nietzsches Formel für ein Publikum.

Sie hallt in mir nach, wenn wir als Künstler_innen von Förderstellen nach Zielgruppen gefragt werden, wenn wir Öffentlichkeitsarbeit nachweisen, Auslastungsquoten vorhersagen, uns zu Besucher­In­nen­forschung verpflichten und so Publikum ausschließlich als Zahl qualifizieren; während wir auf der anderen Seite in unseren künstlerischen Arbeiten genau darauf konzentriert sind, Zu­schauen, Zu­hören, Em­pfinden, Teilnehmen nicht als selbstverständliche Vorgänge vorauszusetzen, sondern immer erst und mit jedem Blick, jeder Geste, jedem Klang, jedem Wort immer wieder anders und immer wieder eigens geschehen zu lassen. Sie hallt in mir nach, wenn ich selbst Zuschauerin bin und merke, wie man bei Aussagen und Botschaften, Bildern und Szenen an mich gedacht hat, wie man sich mich ausgerechnet hat als eine mit Meinungen, Bildung und Gefühlen; wie auch ich sofort vergleiche, einordne, bewerte und sich in mir Gefühl und Meinung bilden; oder wenn sich andererseits beim Zuschauen das Gewicht einer Auflösung, Entrückung, Intensität ereignet, die nichts mit mir, nichts mit einem »Ich«, seinen Sichtweisen, Meinungen, Gefühlen zu tun hat. Und sie hallt in mir nach als Nietzsche-Leserin, die nach Be­stä­ti­gung, Identifikation, Zustimmung und Ablehnung, Gültigkeit oder Irrtum sucht oder auf der anderen Seite wie Echo ihrem Narziss einfach lauscht und nachruft.

Teilnehmen an Kunst, Publikum-sein kommt mir heute sehr fragwürdig vor. Diese Fragwürdigkeit hat mit all dieser Zerrissenheit, diesen Widersprüchen zu tun, die kaum neu sind, sich aber vielleicht gerade mit besonderer Gewalt zeigen. Einer Gewalt, die den Befehl zu totalem Entsprechen heraus­brüllt und zugleich, als Kehrseite, in sich eine elementare Dichte unermesslicher und voraus­setzungs­loser Offenheit einräumt; die nihilistisch allgemeine Äquivalenz installiert und Inkommensurables ge­sche­hen lässt. Ich glaube, dass sich diese beiden Seiten des Maßes heute auch dort in aller Kon­se­quenz zeigen und entscheiden, wo es darum geht, was Zuschauen heißt.

I.

Mit Nietzsche lässt sich darüber nachdenken, was ein Publikum ist. Von der Geburt der Tragödie an geht es bei ihm um ZuschauerInnen. Die Etappen vom Anfang bis zum Untergang der Tragödie schildert Nietzsche vor allem als Veränderung des Bezugs zwischen Chor und Publikum. Der Chor ist der Geburtsschoß der Tragödie, der Zuschauer ist ihr Ende. Das Ende der Tragödie kommt weder von außen, noch ist es ein natürliches Altern und Sterben, begleitet von Nachwuchs, sondern die Tragödie ist einsam und begeht Selbstmord. Mit Euripides, der den Zuschauer auf die Bühne holt, bringt sie sich um.

Ganz am Anfang gibt es nur den Chor, kein Schauspiel, keine Zuschauer. Und auch als der Schau­spie­ler auftritt, und sich die Zuschauer im Theater versammeln, gibt es zunächst noch keine Zuschauer im eigentlichen Sinn. Es gibt sie nicht, weil sie mit dem Chor eins sind: »Ein Publicum von Zuschauern, wie wir es kennen, war den Griechen unbekannt: in ihren Theatern war es Jedem, bei dem in concentrischen Bogen sich erhebenden Terrassenbau des Zuschauerraumes, möglich, die gesammte Culturwelt um sich herum ganz eigentlich zu übersehen und in gesättigtem Hinschauen selbst Choreut sich zu wähnen.« (GdT, 59) Die Anlage des antiken griechischen Theaters als ganz Auge und Ohr, der Chor als der dionysischen Feier dienender haben die Aufgabe, Konzentration und Anregung zu liefern. Der Blick fokussiert, der Chor stimuliert. Er ist dazu da, die Stimmung der ZuhörerInnen so »dionysisch anzuregen«, dass sie sowohl sich selbst vergessen, als auch den Schauspieler als Visionsgestalt, als Rollen-Bild sehen und nicht in seiner maskierten Profanität. Es gibt in diesem Theater überhaupt keine Alltäglichkeit, nichts ist politisch oder sozial und in diesem Sinne »wirklich«; der Chor ist die ganze Realität, die aus sich die Vision – das, was im und als Theater geschaut wird – erzeugt und von ihr mit der ganzen Symbolik des Tanzes, des Tons und des Worts handelt. Was so stattfindet, geschieht nicht für Zuschauer, nicht zu ihrer Bildung, nicht zu ihrer Besserung. Sie kommen gar nicht vor, sie sind zugleich ein- und ausgeschlossen. Der Chor ist für Nietzsche – er folgt Schiller und dessen Bestimmung des Chors in der Vorrede zur Braut von Messina – eine »lebendige Mauer«. Er hält die Alltäglichkeit draußen, er ist »die Hauptwaffe gegen den gemeinen Begriff des Natürlichen« (GdT, 55). Schiller hat damit Recht, sagt Nietzsche, denn gerade weil die Sphäre der Poesie, der Kunst innerhalb der Welt ist, weil sie in dieser Welt Wahrheit sein will, braucht sie die Abgrenzung. Der Chor als lebendige Mauer ist Schutz, Grenze, Festung des Ideals, eines Außen im Innen, vor Alltäglichkeit und Naturalismus, den treuen Abbildern der Wirklichkeit.

Diese ganze so verstandene Wirklichkeit und Alltäglichkeit zieht schließlich in Form des auf die Bühne gebrachten Zuschauers am und als Ende der Tragödie in sie ein. Euripides entlässt den Menschen des alltäglichen Lebens aus dem Zuschauerraum auf die Bühne. So verdoppelt sich der Zuschauer – in dieser Verdopplung entsteht er überhaupt erst als solcher – und sieht auf der Bühne sich selber. Darüber freut er sich und wird sein Anhänger; als Zuschauer, der nicht mehr im Chor aufgeht, und sich so selbst im Blick behält, wird er erst wirklich fähig, das, was er sieht, auf sich zu beziehen und zu beurteilen. Diese Erfindung des Zuschauers ist Verstandesarbeit: Euripides schafft nicht einfach Tragödien, sagt Nietzsche, er folgt nicht einem Instinkt oder Kunsttrieb, sondern er fängt an, darüber nachzudenken, was eine Tragödie ist und wie die Tragödien, die er kennt, funktionieren. Er versucht zu verstehen und das tut er als Zuschauer. Als solchem fällt ihm auf, dass das, was er bei Aischylos oder Sophokles sieht, nicht zu verstehen ist. »So sass er [Euripides], unruhig grübelnd, im Theater, und er, der Zuschauer, gestand sich, dass er seine grossen Vorgänger nicht verstehe. Galt ihm aber der Verstand als die eigentliche Wurzel alles Geniessens und Schaffens, so musste er fragen und um sich schauen, ob denn Niemand so denke wie er und sich gleichfalls jene Incommensurabilität [der Tragödie] eingestehe. Und in diesem qualvollen Zustande fand er den anderen Zuschauer, der die Tragödie nicht begriff und deshalb nicht achtete.« (GdT, 81) Euripides schreibt also aus der Erfahrung des Zuschauers und zwar des Zuschauers mit ausgeprägtem Verstand. Er reinigt die Tragödie, er macht die Kunst verständlich, baut sie auf Verstand. Am alten Dionysischen, am Chor und seiner Stimulation lässt sich dabei noch teilnehmen, aber in Form einer »diplomatisch vorsichtigen Theil­nahme« (GdT, 81), also überlegt, kalkuliert, dosiert. Zum Verstand des Zuschauers kommt der Schau­spie­ler, der jetzt nicht mehr Projektionsfläche der Vision, mit ihr verschmolzenes Rollen-Bild ist, sondern leidenschaftlicher Darsteller von Eigenschaften. Und der »andere Zuschauer«, den Euri­pi­des als Verbündeten findet, ist Sokrates, der theoretische Mensch. Es entsteht das, was Nietzsche »ästhe­ti­schen Sokratismus« nennt: »alles muss verständig sein, um schön zu sein« (GdT, 85) Die Inkommensurabilität der Tragödie, ihre Notwendigkeit wird zur Kausalität, der philosophische Ge­dan­ke überwächst die Kunst, der Chor, Ursprung und Ursache, wird zu etwas Zufälligem, zu Beiwerk. Aus Verstand und Gefühl besteht das, was fortan in den Theatern stattfindet. In dieser Geschichte ist der Zuschauer eine Erfindung, die aus Wissen, Verstand und Mitgefühl mit dem seinerseits mit Lei­den­schaf­ten arbeitenden Schauspieler besteht. Mit dem Chor weiß der Zuschauer nichts anzufangen, es gibt zwei Seiten: Auf der einen ist ein Chor, der den Zuschauer einschließt, indem er ihn aus­schließt; auf der anderen das Paar Zuschauer und Schauspieler, Verstand und Gefühl.

II.

Die Geburt der Tragödie schreibt Nietzsche als begeisterter Anhänger, die Wiedergeburt verspricht er sich zu diesem Zeitpunkt von Wagner, ihm ist die Schrift gewidmet. Also sprach Zarathustra ist seine Antwort darauf, auch das eine Geburtsschrift, ausgetragen vom »Elefantenweibchen«, wie Nietzsche sich selber in Ecce homo als Zarathustra-Autor nennt (Eh, 336). Im Unterschied zur dem einen verehrten Künstler zugedachten Geburt der Tragödie ist es »Ein Buch für Alle und Keinen« und hat die Seiten gewechselt; Nietzsche datiert die Zarathustra-Geburt mit Wagners Todesstunde (Eh, 336). Mit seiner unbestimmten Widmung und seiner Vielstimmigkeit wird der Zarathustra zum Problemfall der Zuordnung, das Buch sei nicht Philosophie, sondern Literatur und nichts davon ganz, weder das eine noch das andre, entweder für Denker oder für Ästheten, entweder mit Verstand oder mit Gefühl zu lesen.

Was aber, wenn es nicht so sehr um die Gattung geht, sondern um die, für die das Buch ist? Wenn es das Alle und Keiner ist, um das man sich Gedanken machen muss? Was wäre, frage ich mich, wenn dieses rätselhafte Alle und Keiner – das Publikum, die LeserInnen, die ZuschauerInnen des Zarathustra – ein Chor wäre? Eine unbestimmte und unbestimmbare Menge, eine ohne gemeinsames Maß? Wenn das »und« zwischen Alle und Keiner eben kein Entweder-Oder ist, sondern das nicht-Gemeinsame? Wenn Alle und Keiner ganz und gar unbestimmt und unbestimmbar ist, von Grund auf – nicht je nach Gattung solche mit Gefühl oder Verstand, nicht diese oder jene, überhaupt nicht solche, die etwas gemeinsam haben? Wenn Alle und Keiner genau den Sinn hätte, den der Chor in der Tragödienschrift hat? – Der Chor als der »›idealische Zuschauer‹ in einem tieferen Sinn« (GbT, 59), wie ihn Nietzsche Schlegel umdeutend charakterisiert: »Der Chor ist der ›idealische Zuschauer‹, insofern er der einzige Schauer ist« (ebd.). Kein Gegensatz von Publikum und Chor, Aufgehen der ZuschauerInnen im Chor, einem Chor von Verwandelten – nicht Bestimmte, nicht Einzelne, nicht Individuen –, in der Einheit als Schauer. Schauer, weder persönlich noch unpersönlich, ebensowenig aus Schauspiel und Leidenschaft heraus gedacht, wie aus Philosophie und Verstand, weder theatral noch theoretisch, sondern ein anderes, sehr viel weiteres und zugleich dichteres Schauen, das woanders ist als jenes, das Schauspieler und Zuschauer miteinander verbindet. Vielmehr so etwas wie ein Schauen selbst als chorische Einheit. Eine Einheit, die jeweils im Moment entsteht, die nicht vorausgesetzt ist oder sich verwirklicht, sondern die im, aus dem, als Chor entspringt. Eine Einheit, die nicht auf einen Nenner bringt, sondern kein Maß hat, inkommensurabel ist, unermesslich wie das »geheimnisvolle Zwielicht« (GbT, 83), aus dem der Chor kommt, das ihn umgibt und das er bewahrt. Der schauende Chor, ein Schauer-Chor, chorisches Schauen: Schauer als niemandem gehörender Affekt und geteilte Intensität, ein Außen, das ganz innen ist, Scheinen des Zwielichts, das Zwielicht nicht als Dunkel, sondern als Öffnung. Offen für Alle und Keinen – die Formel ohne gemeinsames Maß.

Alle und Keiner als Chor, der das Außen im Innen öffnet, innerhalb der Welt Öffnung ist. Genau deshalb ist der Chor die »lebendige Mauer«, die, indem sie schließt, öffnet. Die Mauer, die als Dichte unermessliche Offenheit ist. Der Chor ist Einstimmung, aber nicht Einstimmung in oder auf etwas, das vor ihm da wäre, das er umsetzen und an dem er gemessen werden könnte, sondern Einstimmung, die jeweils erst geschieht. Chorische Einstimmung, chorisches Schauen –der chorische Schauer, der nicht kalkulierbar ist, also zugleich entzogen, dunkel, rätselhaft – offenes Geheimnis – bleibt.

Es ist dabei vollkommen unerheblich, aus wie vielen ein solcher Chor besteht, dieser Chor kennt keine Anzahl (nebenbei: daher unterscheidet ihn auch nicht die Quantität vom »Schauspieler«, auch eine einzelne Person kann chorisch sein). Er ist das Stattfinden eines Schauens im wesentlichen Sinn, die Intensität einer Erfahrung. Jene Person, die gezählt, berechnet, analysiert und befragt werden kann, gibt es nicht, wenn es um einen solchen Chor geht. Jene, auf deren Verstand oder Emotionalität es ankäme, die etwas wissen oder verstehen will, dieses oder jenes empfinden möchte, ebensowenig. Aus der Sicht eines so verstandenen Chors gibt es überhaupt nicht diese oder jene Person, die außerdem, zusätzlich noch zusieht (und dabei dann vielleicht »auf sich zurückgeworfen wird«, sich ihrer selbst »bewusst wird« oder ähnliches). Eine aus dem Chor heraus verstandene künstlerische Arbeit hat keine Zuschauer, die man kalkulieren und einschätzen müsste, keine Botschaft, die man verstehen und kein Gefühl, das man mit- oder nachempfinden könnte.

Die Frage nach dem Maß entscheidet sich deswegen im Zuschauen, weil die unermessliche Offenheit des chorischen Schauens und Schauers die Kehrseite der Berechenbarkeit ist, sei sie die Ökonomie des Verstehens oder die des Gefühls. Die Inkommensurabilität ist die andere Seite der nihilistischen Zahl als Maß von allem, als allgemeine Äquivalenz. Die Kehrseite, die Chorseite. Für Alle und Keinen, ohne Gefühl und Verstand.


Ich zitiere aus: Friedrich Nietzsche, Kritische Studienausgabe hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, dtv/de Gruyter : München 1988

Zum »Unermesslichen« im Kontext des Theaters vgl. auch Marita Tatari (Hg.): Orte des Unermesslichen, diaphanes 2013